ADHS und klinische Betäubungen

Als ich ca.13 Jahre alt war, hatte ich einen schweren Fahrradunfall, bei dem ich mir einen doppelten Kieferbruch zuzog. Ich wurde damals mehrere Stunden im Krankenhaus operiert. Als ich später nach Hause kam, litt ich unter Albträumen von besonders übler Art. Ich fantasierte immer von grünen Männern und bat meine Mutter unter Panik, dass sie sie wegmachen solle. Irgendwann saßen wir im Krankenhaus, weil ich mal wieder untersucht werden sollte. Plötzlich kamen einige Ärzte in grüner Kleidung aus einem OP, und ich sagte zu meiner Mutter: „Schau mal, da sind die grünen Männer.“ Meine Mutter erschrak und fand so heraus, dass ich wohl während der Narkose mehrfach aufgewacht war.

Ich hatte ab da bis zu meinen ca. 27. Geburtstag eine Phobie vor Zahnärzten. Erst eine sehr gute Freundin, selbst von Beruf Zahnärztin, hat es geschafft mich dorthin zu bewegen. Ich persönlich kann mich an keine Vollnarkose erinnern, bei der ich nicht aufgewacht bin. Auch die Wirkung von Wick Medinight ist atypisch. Es dreht mich eher auf. Ich werde davon absolut nicht müde. Diese Diskussion über AD(H)S und klinische Betäubungen habe ich einmal bei uns im Forum zur Diskussion gestellt. Es kamen dabei sehr interessante Artikel heraus, aus denen klar erkennbar ist, dass dies wohl ein allgemein verbreiteter Zustand ist. Ich möchte einige der Antworten unserer User hier präsentieren, da ich mir sehr gut vorstellen kann, dass dies für viele AD(H)Sler ein sehr wichtiges Indiz ist.

Hinzu kommt die Tatsache, dass es nicht gut sein kann, wenn Kinder und auch Erwachsene bei Narkosen aufwachen. Welche Traumata da entstehen können, mag ich mir gar nicht vorstellen.

Cori69

Bei meinem Sohn wirkte dieses "Scheiß-egal-Beruhigungs-Mittel" vor einer OP auch eher wie'n "High-Macher"...

Er sah alles doppelt, versuchte meine Nase anzufassen... ging aber nicht weil er daneben griff! Er kriegte nen totalen Lach-Flash usw...! (ok, zumindest hatte er keine Angst mehr!!!) Aber ruhig in dem Sinne wurde er absolut nicht, er versuchte ständig wieder aufzustehen!

Wieviel Narkosemittel er brauchte, weiß ich nicht, aber die Aufwachphase war voll der Horror-Trip, weil er ständig aufstehen wollte, nur geschrien und geweint hat... (Schmerzen konnte er aber eigentlich keine haben...)

Eine Stunde später, auf'm Zimmer, wollte er sofort essen und trinken und war kaum noch im Bett zu halten! TOP-FIT!!!

Der Kontroll-Besuch des Doktors, 'ne Stunde später, war dann auch witzig, wir mußten Kevin erst 'ne viertel Stunde suchen... Er spielte in nem anderen Zimmer Playstation...!

Der Doc meinte dann, sowas hätte er noch nie erlebt, nach DER Narkose wär normalerweise vor abends nicht an Aufstehen zu denken gewesen!

Petra J.

Mein Sohn hat mehrere OPs an den Ohren hinter sich. Beim ersten Mal bin ich noch in Panik geraten. als er beim Aufwachen nach der OP schon nach 10!!!! Minuten aus dem Bett wollte, wild um sich geschlagen und geschrien hat.

Das Klinikpersonal hat mich völlig entgeistert angeguckt, als hätte ich das Kind irgendwie nicht im Griff und gaben ihm Valium.

Die OP Schwester kam zufällig vorbei und meinte ganz lapidar: Oh, n Randalierer..hatta ADS?? Denn is das ganz normal*abwink* und ging weiter ihres Weges. Der Doc meinet anschliessend , das manche Dinge bei Adlern eben paradox wirken. Bringense beim nächsten mal jemanden mit der ihnen hilft den Jungen in der Aufwachphase festzuhalten.

So gings uns noch vier mal insgesamt und in zwei verschiedenen Kliniken die gleiche Erklärung.

Mir geht es genauso. Bin im letzten jahr dreimal innerhalb von zwei Wochen an einem infektiösen Schulterkopfbruch operiert worden.

Ich wurde im Aufwachraum wach und musste aufs Klo, und auf der Pfanne..na ja..kann ich nicht*löl* Die Schwester wollte mir nen Katheter legen. hab sie angeschnauzt ob sie wohl nicht ganz dicht sei*grins* ICH WILL ZUM KLO..hab noch nen Pfleger kommen lassen und bin gegangen..war topfit..die konnten es nicht fassen. Drei Stunden später hab ich mir meinen Tropf geschnappt und bin alleine durchs Zimmer gelaufen..man war echt fassungslos..kann doch auch nix dafür..ist eben so

Whisperie

Mit 8 Jahren hatte ich eine Mandelresektion unter Vollnarkose - das Aufwachen war laut Schwestern extrem heftig, wie erzählt wurde, ich hätte um mich geschlagen etc., das hätten sie bei sonst nicht vielen... OK, das kann auch unter "noch normal" verbucht werden.

Beim Zahnarzt kommt es schonmal vor, dass er nachspritzen muss - ich lasse nur mit Betäubung bohren. Einmal hat er 4 Spritzen setzen müssen...

Das Schlimmste eigentlich war aber eine OP am Kiefer, während der Schwangerschaft war mir hinter den Schneidezähnen ein gutartiges Geschwür gewachsen - das mussste später entfernt werden.
Der Arzt spritze in das Ding rein und drunter - da war ich schon kurz vorm umkippen (üübel). Und nach ein paar Minuten ließ die Betäubung komplett nach  Weinen

Da saß ich dann also, einen extrem unfreundlichen Arzt vor mir, der mich nicht ansprach oder beachtete, die Hände unter einem grünen Tuch verborgen, reden konnte man nicht - während das Geschwür mit dem Laser entfernt wurde. Keine Chance zu reagieren... Eben ohne Betäubung... Glücklicherweise hatte ich noch die Geburts-Vorbereitung im Hinterkopf, ich hab das dann versucht mit "Schmerzen veratmen" zu überstehen...

Anyron

Hallo allerseits,

ich möchte mich doch mal in die interessante Diskussion um anästhesiologische ("klinische Betäubungen") Verfahren und ADHS einmischen.

Die gängigste neurobiologische Theorie bezügliche der Pathogenese (also der Krankheitsentstehung) des ADHS besagt, dass in einem Neurotransmittersystem im Gehirn ein Ungleichgewicht vorliegt.  Die gängigen Hypnotika, die wir in der Anästhesie benutzen, beeinflussen das GABA-System und das dopaminerge System sowie einen Teil des Gehirns, den wir Formatio reticularis nennen. Die Formatio reticularis ist unter anderem für die Vigilanz, die Wachheit, verantwortlich. Ebenso haben das GABA- und das dopaminerge System Einfluss auf die Vigilanz und die Reaktionsfreudigkeit.

Zur Prämedikation für eine Allgemeinanästhesie - die "Vollnarkose" - verabreichen wir im Allgemeinen Stoffe aus der Klasse der Benzodiazepine - wie zum Beispiel Dormicum oder Tranxillium, die allesamt bei nicht-ADHS-Betroffenen hauptsächlich auf das GABA-System und die Formation reticularis wirken. Hiervon rührt auch der beruhigende und angstlösende Effekt dieser Medikamente. Die Reflexe werden gedämpft und in  hoher Dosierung wirken sie hypnotisch, also schlaffördern, keinesfalls allerdings analgetisch (schmerzlindernd). Zur Analgesie während der Narkose benutzen wir zur Narkoseinduktion hochdosierte Opiodie, wie zum Beispiel das Fentanyl, das Alfentanil oder das Remifentanil. Diese Stoffe besetzen im Gehirn sogenannte Opioidrezeptoren und schalten dadurch beinahe vollständig das Schmerzempfinden aus. Es wurde in der einschlägigen Literatur berichtet, dass in subnarkotischer Dosierung Halluzinationen auftreten können. Ebenfalls berichtet - und aus eigener klinischer Erfahrung mit meinen PatientInnen - wird, dass bei rascher Anflutung (sehr schnelle Injektion) Euphorie und Wärmegefühle auftreten können.

Für die Narkoseerhaltung benutzen wir halogenierte Kohlenwasserstoffe wie zum Beispiel Sevofluran, Isofluran oder auch Halothan. Letzteres ist allerdings mittlerweile sehr umstritten, da es eine schwerwiegende Narkosekomplikation - die maligne Hyperthermie (MH) - auslösen kann. Eine genetische Disposition hierfür wurde noch nicht nachgewiesen, steht aber im Verdacht, die MH zu fördern. Weiterhin kommt das klassische Lachgas zur Narkose zum Einsatz.

Die reine Gasnarkose ist mittlerweile sehr selten geworden, wir verwenden eher das Verfahren der balanced Anaesthesia : eine Mischung aus Gas und intravenös verabreichten Medikamenten.

Eine SONDERFORM der Narkoseführung ist die sogenannte dissoziative Anästhesie: Ein Benzodiazepin (zumeist Midazolam) wird mit Ketamin kombiniert. Ketamin ist ein hochwirksames Analgetikum, das aber ohne die Komponente der Hypnose - durch z.B. Midazolam - zu äußerst unangenehmen Halluzinationen führen kann. Die Patienten sind nicht wach im eigentlichen Sinn, sie empfinden keinen Schmerz, erinnern sich aber nach der Narkose an unangenehme Sinneseindrücke, wie sie hier in diesem Thread auch schon beschrieben worden sind.

Ein ganz anderes Verfahren zur Anästhesie verwenden die zahnärztlichen Kollegen. Die Leitungs - oder Terminalanästhesie bedient sich der Lokalanästhetika vom Amidtyp, wie zum Beispiel Xylocain. Die Amide sind eng mit der Ursprungssubstanz, dem Kokain, verwandt. Sie unterbrechen den schnellen Natriumeinstrom in die Zelle und somit die Schmerzweiterleitung. Kombiniert mit Vasokonstringentien (also Substanzen, die die Blutgefässe engestellen) wie Epinephrin kann eine langanhaltende Analgesie gewährleistet werden.

Soviel zu den gängigen Anästhesieverfahren. Es ist zu vermuten, dass bei Patienten, die das ADHS-Syndrom an den Tag legen, auch diejenigen Areale im Gehirn mit betroffen sind, die die gängigen Hypnotika für die Einleitung einer Vollnarkose einfach gesagt "akzeptieren". Möglicherweise ist die Rezeptorendichte für diese Stoffe im Gehirn so gering, dass ein vielfaches der normalen Dosis notwendig ist, um die Narkose fachgerecht einzuleiten und aufrechtzuerhalten. Weiterhin ist anzunehmen, dass die Verstoffwechselung dieser Substanzen und ihrer Substrate viel zu rasch geschieht, möglicherweise durch einen Defekt in den abbauenden Systemen.

Da viele ADHS-Patienten auch von Problemen mit den Analgetika vom Amidtyp berichten, ist auch anzunehmen, dass auf zellulärer Ebene der Einstrom von Natrium in die Zelle nicht ausreichend unterbrochen werden kann, bzw. möglicherweise die Verstoffwechselung des Analgetikums viel zu rasch abläuft. Ich vermute, dass die "Zahnarztspritze", die einen Zusatz von Epinephrin enthält, wesentlich langsamer nachlässt und auch das Schmerzempfinden für diese Patienten effektiver ausgeschaltet werden kann.

Ich hatte diese Woche einen Patienten mit manifestem ADHS zur Narkoseeinleitung im OP. Von der Prämedikation, die wir verordneten, war kaum Wirkung zu sehen. Auch auf wiederholte Gabe von Midazolam (insgesamt 5 mg, 3 mg davon als rasche Injektion) sprach er kaum an. Er berichtete zwar vom erwarteten "Diesigwerden" im Kopf, war aber knapp 5 Minuten später wacher und ansprechbarer als zuvor. Für die Narkoseeinleitung selbst habe ich knapp 300 Milligramm Propofol verwenden müssen (Dosierung ist normalerweise 2mg pro Kilogramm Körpergewicht. Also bei einem Patienten von 90 Kilogramm müssen 180mg Propofol injiziert werden. Mein Patient wog 85 Kilogramm, keine Drogen- oder Alkoholanamnese). Der Verbrauch von Opioden lag in der Norm für den Eingriff, allerdings musste ich wesentlich mehr Gas verwenden, um die Narkose tief genug zu halten.

Nur ein kleines Beispiel aus meiner Praxis, aber ich finde, es besteht immenser Forschungsbedarf zu diesem Thema.

Jochen

Hallo anyron,

erst einmal vielen Dank für diesen ausgesprochen interessanten Beitrag. Ich bin regelrecht begeistert, zumal ich schon sehr lange über diese Situation nachdenke.

Ich habe dazu ein paar Fragen.

1. Gibt es zu diesem Thema klinsiche Studien? Wenn ja, wo finde ich die?

2. Wenn es keine Studien gibt, wäre es interessant so etwas anzudenken? Wenn ja, wie können wir in Kontakt treten?

3. Wenn das bewiesen wäre, könnte es sein, dass wir hier das erste wirkliche Diagnosekriterium für AD(H)S gefunden haben, welches sich medizinisch nachweisen lässt?

4. Sind dir andere Patientengruppen bekannt, bei denen so etwas vorkommt?

Ich würde dieses Thema wirklich sehr gerne vertiefen und kann mir hier an dieser Stelle eine Zusammenarbeit seitens des Vereins TOKOL e.V. sehr gut vorstellen. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn wir uns zu diesem Thema austauschen und eventuell darüber nachdenken, was man mit diesem Wissen anfangen kann.

Ich denke, wenn hier ein wissenschaftlicher Beweiß angeführt werden kann, würde das sowohl Veränderungen in der Diagnostik für AD(H)S bedeuten, aber auch eine Umgestaltung oder auch Neudefinierung bei medizinischen Betäubungen für AD(H)S-Patienten.

Ich freue mich auf deine Einschätzung und weiteren Austausch.

Anyron

Hallo allerseits,

soweit ich weiss, existieren keine oder allenfalls wenige klinische Studien in diesem Bereich.  Zum einen hat dies vermutlich den Grund, dass die ADD oder die ADHD nicht nur rein neurobiologisch erklärt werden kann (sie wird in der ICD-10 unter der Gruppe "F" - also psychiatrische Erkrankungen - geführt) und zum anderen .. so traurig das auch ist.. besteht von Seiten der pharmazeutischen Industrie wenig Interesse, eine Krankheit zu erforschen, die kaum Potential zur Vermarktung von Medikamenten bietet. Ganz anders sieht das von psychiatrisch-psychologischer Seite aus.

Die psychometrischen Tests sind recht ausgereift, allerdings sehr aufwändig anzuwenden. ADD und ADHS sind nunmal keine klar definierten Krankheiten oder Störungen, vielmehr sind sie Syndrome - und diese setzen sich aus vielen kleinen Komponenten zusammen. Folglich kann man im Moment auch nicht kausal, sondern nur syndromorientiert behandeln. Siehe die Kombination aus Methylphenidat UND Psychotherapie, die Hand in Hand gehen sollten. Wie sonst sollen ADD und ADHS-betroffene PatientInnen lernen, mit ihrer Erkrankung umzughen.

Persönlich tendiere ich, die PatientInnen nicht zu stigmatisieren (also nicht zu sagen.. haha.. Sie haben ADD oder ADHS .. sondern.. hey, Sie legen Symptome von ADD oder ADHS an den Tag, ABER...), sondern vielmehr Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.  Umso wichtiger ist Psychotherapie, wenn man sich vor Augen hält, dass 10-20% aller mit Methylphenidat behandelten PatientInnen NICHT darauf ansprechen. Eine enorm hohe Versagerquote.. Ritalin (Methylphenidat) ist eben NICHT das Allheilmittel!

Aber auch hier muss man sehr vorsichtig und gründlich vorgehen, um die richtige Form der Psychotherapie zu finden. Unter der Gruppe der ADD - und ADHS-Patienten zeigen sich auffallend viele, die Symptome des Autismus und der schizoiden- und asthenischen Persönlichkeitsstörung an den Tag legen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass diese Menschen von Klein auf ausgegrenzt werden, weil sie eben "anders" sind als andere Kinder. 

Hier sollte keinesfalls psychoanalytisch (oder tiefenpsychologisch) vorgegangen werden, denn diese sogenannten aufdeckenden Verfahren stoßen diese Patientengruppe in einen Bereich ihrer Psyche vor, den sie ohnehin schon durch jahrelanges Konditionieren von außen regelrecht hassen.

Die sogenannten zudeckenden Verfahren, wie die Verhaltenstherapie, die gezielt darauf gerichtet ist, Verhalten anzutrainieren, das diese PatientInnen davon abhält, weiterhin selbstdestruktives Verhalten an den Tag zu legen und ihnen Strategien an die Hand gibt, ein einigermaßen geregeltes Leben zu führen, sind hier wesentlich effektiver.

Für die häufig vorkommenden Teilleistungsstörungen ist z.B. Ergotherapie ein großes Plus. Wie es sonst in der Forschungslandschaft in Deutschland mit Geldern für die Erforschung einer Krankheit, die rein psychiatrisch klassifiziert wird, ausschaut, brauche ich glaube ich nicht erwähnen.  Zum anderen bin ich skeptisch, ob eine klinische Studie "ADHS, ADD und Anästhesie" so einfach einen Ethikausschuss passieren würde. Man müsste ein riesiges Probandenklientel gezielt anästhesieren, eine Kontrollgruppe einer normalen Narkoseführung unterziehen mit dem Risiko, dass diese PatientInnen während des Eingriffs wach werden oder Schmerzen empfinden. Das finde ich persönlich ethisch nicht vertretbar. Abgesehen von den umfangreichen diagnostischen Voruntersuchungen, um ein ADD oder ADHS VOR der Narkose klinisch zu diagnostizieren - das würde den Rahmen jeder Studie einfach sprengen.

Aber: insgesamt ein interessanter Aspekt.  Ich befürchte aber, dass man klein anfangen müsste - nämlich mit dem Sammeln von Patientendaten. Damit eine Studie überhaupt repräsentativ ist, muss sie sorgfältig designed werden (also erstmal die ganzen Methodika zusammenstellen, eine Fragestellung finden), dann muss die Finanzierung gesichert sein (als Beispiel: meine eigene Doktorarbeit im Bereich Suchtmedizin und Alkoholismus läuft seit 3 Jahren, finanziert von der BfA mit knapp 800 000 Euro und Unmengen von Bürokratie) und schließlich muss das Ganze auch ausgewertet werden. Und dann ist es immer noch nicht veröffentlicht. Also ein Projekt, das sicherlich 5-6 Jahre laufen würde.

Es gibt weitere Patientengruppen, bei denen eine ähnliche Symptomatik bei einer "Vollnarkose" oder einer Leitungsanästhesie vorkommt. Zum einen bei Menschen, die psychiatrische Erkrankungen haben, hier vorrangig aus dem schizophrenen Formenkreis, wo ebenfalls Neurotransmittersysteme betroffen sind, und zum anderen Menschen mit Mißbrauch von Benzodiazepinen, Schmerzmitteln oder Alkohol. Auch der Zustand der abbauenden Organe wie Leber spielen eine große Rolle. Und - wenn auch selten - gibt es non-responder auf die Anästhesiegase. Warum - das weiß keiner.

Mit dem "ADHS-Ausweis" ist das so eine Sache.. ADD und ADHS sind eine derart winzige Nische in der Psychiatrie, dass wohl kaum ein niedergelassener Kollege damit was anfangen kann. Sicher hat er schon davon gehört, aber Behandlungsstrategien werden an den Universitäten nicht gelehrt. Es wurde für die dissoziative Persönlichkeitsstörung erprobt, aber mit wenig Effekt. Diese PatientInnen ("multiple Persönlichkeit") landen nach wie vor in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Kliniken, wenn ihre vielen Innenpersonen in Konflikt geraten und sie nach außen hin den Anschein der totalen Desorganisation und des Chaos machen...

Aber - auch hier könnte man sicher etwas sinnvolles entwerfen, wenn auch nur mit der winzigen Aussicht, dass die Kollegen das auch richtig interpretieren können.

Sebi

Ich möchte dazu gerne ein paar Sachen anmerken.

ADD ist zunächst mal definitiv rein genetisch, und daraus folgend neurobiologisch bedingt. Wer das bestreitet, egal ob die ICD oder irgendwer sonst, dann deshalb, weil er es nicht besser weiß oder weil er andere Interessen daran hat. Man kann es auch als genetische Abnormalität betrachten, um den Begriff Störung zu umgehen. Den das Einzige was nicht beweißbar sein wird ist, daß unsere Veranlagung zwingend eine Störung oder eine Krankheit ist.

Allerdings ergeben sich als Folgen fehlender Anpassung an unsere Gesellschaft meißt verschiedene psychiatrische Belastungserscheinungen. Und natürlich ist auch die Veranlagung selbst meißt deshalb eine direkte Behinderung, weil unsere Informations- und Gefühlsverarbeitung nicht zur vorhandenen Umwelt passt. Unsere Veranlagungen nach oberflächlichen Auffälligkeiten und Folgeerscheinungen zu definieren, auch wenn es die ICD ist, ist rückständig.

Zum Thema Methylphenidat: niemand von uns betrachtet es als Heilmittel. Sondern es ist für uns eine individuelle Unterstützung und Hilfe, um mit unserer speziellen Informations- und Gefühlsverarbeitung besser leben zu können. Daß das nicht für jeden gleich gut funktioniert, ist klar. Das ergibt sich nicht zuletzt aus der individuellen Lage und Sichtweise.

Ob jemand Psychotherapie benötigt, und wenn ja, welche dann die Beste ist, hängt vermutlich vom Einzelfall ab. Sie hat aber im Grunde nichts zu tun mit der Unterstützung durch Methylphenidat. Die Entscheidung darüber, welche Arten von Unterstützung man wählt, sollte jedem selbst überlassen bleiben. Möglicherweise habe ich Dich hier falsch verstanden, ich wollte in diesen Punkt aber meine Sichtweise darlegen.

Aber wenden wir uns doch wieder dem Medizinischen Schwerpunkt dieses Threads zu:

Du beschreibst sehr gut (anhand des Beispiels der dissoziativen Persönlichkeitsstörung) die mangelhafte Tiefgründigkeit, oder besser die banale Oberflächlichkeit, mit der oft behandelt wird. Diese Oberflächlichkeit ist im Falle von klinischen Betäubungen für uns ADS-Leuten möglicherweise gefährlich.

Was ich sehr gut finde, ist, daß Du uns direkt sagst, warum kein Interesse an größeren Forschungsprojekten besteht. Und wir sind uns einig, daß man möglicherweise trotzdem einige sinvolle Neuerungen in die Anästhesie einbringen könnte.

Wir haben doch schon mal, jenseits von allen Massenuntersuchungen, ein Phänomen festgestellt; daß ADD-Patienten zumindest häufiger weniger oder allgemein geringer auf die Betäubungen ansprechen. Allein wenn alle praktizierenden Anästhesisten darüber bescheid wüssten, wäre das gut.

Wenn jetzt noch dazu erreicht werden könnte, daß vor jeder klinischen Betäubung ein mögliches ADD (jenseits von jeder ICD-Festlegung) abgeklärt und diesem möglichen Umstand Rechnung getragen wird, dann wäre das schon ein echter Fortschritt. Wie die Möglichkeiten sind, allgemein auf Probleme verändertem Ansprechens auf Betäubungen zu begegnen, ist doch sicher in der Anästhesie schon bekannt? Ob die ganze Fachwelt so aufgeschlossen und fortschrittlich ist wie Du, da bin ich skeptisch. Aber vielleicht können wir wenigstens dieses Stückchen Vernunft und Menschlichkeit Beitragen.

Anhand dieser Umfrage bei uns im Forum, denke ich das besonders hier ein imenser Klärungsbedarf besteht, abgesehen von der Sicherheit der Patienten mit AD(H)S könnte man dieses nun weiterspinnen und eventuell tatsächlich auf ein Medizinisches Diagnosekriterium stoßen, welches in der Forschung der AD(H)S ein weiterer Meilenstein sein könnte.

Grundsätzlich empfehle ich aber, behandelnde Ärzte unbedingt auf den Zustand der vorhandenen AD(H)S hinzuweißen um ggfs. tatsächlichem Aufwachen und den eventuell draus resultierenden Traumata entgegen zu wirken.