ADHS und Schule

Aus meiner persönlichen Sicht erkläre ich mir mein AD(H)S folgendermaßen: Ich unterscheide bei den Sichtweisen in unserer Gesellschaft zwischen rationaler und emotionaler Wahrnehmung. Ich möchte Ihnen dazu eine Geschichte aus meiner Schulzeit erzählen. Sie passt ganz gut hierher, und sie stellt für mich klar, was die Auswirkungen unseres Schulsystems auf beide Sichtweisen beinhalten.

 

Es handelte sich um eine Geschichtsarbeit über die französische Revolution. Ich liebte dieses Thema, weil Robbespierre mich immer fasziniert hat. Ich habe alles gelesen und mir sogar die Mühe gemacht, in Videotheken darüber Stoff zu suchen und zu finden, um meinen damaligen Wissensdurst zu stillen. In diesem Fach wurde ich geprüft und erinnere mich sehr genau daran, wie motiviert ich zur Schule ging. An diesem Morgen war ich sehr aufgekratzt und erzählte meiner Mutter, dass ich 100%ig eine 1 machen würde, da ich ja nun wirklich alles zu diesem Thema wüsste. Mein Wissen war so umfangreich, dass ich meinen Klassenkameraden sogar Nachhilfe geben konnte, was mich natürlich besonders motivierte. Ich erinnere mich sehr genau an diesen Tag und ging frohen Mutes in den Unterricht.

Es wurde mündlich geprüft von einem Lehrer, den ich nicht kannte. Ich zeige Ihnen hier einmal den Verlauf der Prüfung:

Herr N.: „WANN wurde Robbespierre geköpft?“
Ich: „weiß nicht...!“
Ich: „Aber Herr N., ich kann sagen WARUM... „
Herr N.: „Das hab ich nicht gefragt... „
Ich: „Aber ich dachte darum geht es... „
Herr N.: „Nein, du hast nicht gelernt... „
Ich: „Doch, nur nicht das Datum. Ich hab’ das gelesen, und ich hab’ das hinterfragt, ich weiß WARUM Robbespierre geköpft wurde aber nicht wann... Ist denn der Termin so wichtig? Es geht doch um eine ganze Nation, eine ganze Anschauung, eine Veränderung der Gesellschaft, eine andere Sichtweise, eine Revolution…„
Herr N.: „Weißt du das Datum?“
Ich: „Nein!“
Herr N.: „O. K., du bekommst eine 6!“
Ich: „O. K..., denn ich hab ja versagt....!“

AD(H)Sler haben die Eigenschaft, immer wieder zu hinterfragen und die Ergebnisse zu vergleichen. Vermutlich liegt das an der Tatsache, dass der Betroffene sozusagen sein eigenes Inhaltverzeichnis für Informationen hat. In seinem Buch „Emotionale Intelligenz“ beschreibt Daniel Goleman den faulsten Lehrer der Geschichte. Er war nicht bereit oder Willens, den Schülern den Unterrichtsstoff beizubringen, sondern erfand 1792 das Zensurensystem, welches heute immer noch im Schulsystem praktiziert wird.

In diesem System geht es darum zu erfahren, inwieweit die Schüler in der Lage sind auswendig zu lernen. Natürlich werden auch Inhalte abgefragt, aber der überwiegende Lernstoff wird durch Auswendiglernen geprüft, also rationales Erfassen der Informationen, die zu einem späteren Zeitpunkt abgerufen werden können.

Ich glaube, ein AD(H)S Betroffener hat ein eigenes System. Aufgrund seiner Denkstruktur hinterfragt er solange, bis er ein Thema verstanden hat. Die Informationen werden in der Regel eher inhaltlich, sprich emotional erfasst. Diese Art der Erfassung oder des Lernens lässt sich mit Auswendiggelerntem für den nicht AD(H)Sler nicht vereinbaren.

Ich habe mich bei meiner Geschichtsklausur nie um Daten gekümmert. Für mich war es viel interessanter zu wissen, warum das alles passierte, welche Hintergründe es gab. Wie war der Verlauf der Geschichte? Was waren die Auswirkungen der Revolution und was passierte danach?

Ich erinnere mich auch an Mathematik -  Rechenwege. Ich habe diese Wege nie verstanden, da ich in meiner Hinterfragung andere Wege gefunden habe. Aber auch das war nicht richtig, weil ich den vorgegeben Rechenweg nicht eingehalten habe, aber  trotzdem auf das gleiche Ergebnis kam. Ich konnte mir die vorgegeben Wege nicht merken. Ich vergaß sie schlicht und einfach und bekam wieder schlechte Noten und führte unglaubliche Diskussionen mit meinen Lehrern. Ich denke heute, dass das Resultat meines Verhaltens meine so genannte „schwere Erziehbarkeit“ ausmachte.

Ich bin der festen Überzeugung, dass AD(H)S-Betroffene ganz einfach anders funktionieren, man aber aufgrund der vorherrschenden Meinung, dass ja alle irgendwie gleich sind, festlegt: So hat es zu funktionieren und nicht anders. Wer dann aus dem Rahmen fällt, kommt in Förderschulen, die früher noch Sonderschulen hießen, und das Stigma ist geschaffen.

Ich hatte vor ein paar Tagen ein Telefonat mit meiner großen Schwester. Sie ist Lehrerin, vermutlich auch ADS-hypoaktiv, wobei sie das niemals so sehen würde. Wir haben schon diverse Diskussionen über AD(H)S geführt. Als ich damit konfrontiert wurde, gab es für sie kein AD(H)S. Sie sagte immer, es sei ein Erziehungsproblem, und ich solle mich nicht so anstellen. Das machte mich rasend, und eine Unterhaltung darüber war nicht möglich.

Dadurch, dass sie nun als Lehrerin massiv mit der Thematik konfrontiert ist, reden wir immer häufiger über AD(H)S. Ich muss ihr zugestehen, dass sie im Grunde Recht hat mit der Aussage, dass AD(H)S ein Erziehungsproblem ist, wobei die Aussage, die sie heute fällt, anders klingt als früher. Früher gab sie den Eltern die Schuld, was heute nicht mehr der Fall ist. Gehen wir davon aus, dass unsere Kinder einfach anders funktionieren, ob nun aufgrund einer Störung oder weil die Evolution es so vorgesehen hat, dann kann man Eltern nicht den Vorwurf machen, dass sie ihre Kinder falsch erziehen. Sie erziehen sie nach bestem Wissen und Gewissen. Sie nutzen die Informationen und Normen, die allgemein bekannt sind.

Sie ziehen sich die Informationen darüber aus Quellen, die Ihnen zur Verfügung stehen. Wenn aber zu wenig über das Phänomen AD(H)S bekannt ist, kann man hier keine Vorschläge erhalten, die die Erziehung eines AD(H)S-Kindes sinnvoll unterstützen würden.

Ich vergleiche das immer mit einem Mechaniker, der einen Motor reparieren will. Ich kann ihm keine Ratschläge geben, wie er den Motor reparieren soll, weil ich gar nicht weiß, wie der Motor innerlich funktioniert.